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  • Die Gesichter der Vergessenen
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  • „Uns bleibt nichts anderes übrig, wir müssen hier weg.“, sagte mein Vater in einem trauernden Tonfall. Wir saßen alle geängstigt am Tisch ihrer schmutzigen Wohnung. Die dritte Familienversammlung heute. „Vater, ich werde nicht gehen!“, stieß Faisal verzweifelt hervor und erhob sich. „Ich werde für das Überleben unserer Stadt kämpfen!“, Faisal schnappte sich die an einer Wand angelehnte Kalaschnikow. Vater reagierte nicht darauf, sondern schaute nur starr geradeaus. Faisal stand eine Weile so da, bis er verächtlich schnaubend aus der Wohnung stürmte. Die hölzerne Tür ging mit einem lauten Knall zu. „Vater, was soll ich nun tun? Sie werden bald auch in unsere Stadt kommen.“, ich war damals zu jung um alles zu verstehen. „Wir beide werden gehen, mit oder ohne Faisal.“ Es stand also fest. Ich
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  • „Uns bleibt nichts anderes übrig, wir müssen hier weg.“, sagte mein Vater in einem trauernden Tonfall. Wir saßen alle geängstigt am Tisch ihrer schmutzigen Wohnung. Die dritte Familienversammlung heute. „Vater, ich werde nicht gehen!“, stieß Faisal verzweifelt hervor und erhob sich. „Ich werde für das Überleben unserer Stadt kämpfen!“, Faisal schnappte sich die an einer Wand angelehnte Kalaschnikow. Vater reagierte nicht darauf, sondern schaute nur starr geradeaus. Faisal stand eine Weile so da, bis er verächtlich schnaubend aus der Wohnung stürmte. Die hölzerne Tür ging mit einem lauten Knall zu. „Vater, was soll ich nun tun? Sie werden bald auch in unsere Stadt kommen.“, ich war damals zu jung um alles zu verstehen. „Wir beide werden gehen, mit oder ohne Faisal.“ Es stand also fest. Ich merkte wie mir Tränen in die Augen schossen, doch ich würde mich nicht der Entscheidung meines Vaters widersetzen. „Wa… Wann gehen wir?“, fragte ich heiser. „Wir gehen noch heute Abend“, mein Vater erhob sich, „Pack nur das wichtigste ein, ich nehme die Nahrungsvorräte, wenn wir Glück haben sind die Dschihadisten erst Morgen da. “. Heute noch. Heute noch sollte ich meine Heimat verlassen und sie brutalen „Gotteskriegern“ überlassen. Noch am selben Abend gingen wir los. Ohne Faisal. Nach drei Monate kamen wir in Alexandria, Ägypten, an. Der unfreundliche Aufseher, der uns hier her brachte, meinte wir sollten uns als Touristen ausgeben und zwei Tage später dort am Strand auftauchen. Die Tage zogen sich unerträglich lang hin und da wir so sparsam wie möglich sein mussten, begleitete uns in dieser Zeit ununterbrochen der Hunger. Zwei Tage später tauchten wir nachts am Hafen auf. Die meisten Leute erkannte ich wieder, doch es schienen auch ein paar zu fehlen oder neu dazugekommen zu sein. Der Aufseher hatte zwar gewechselt, jedoch brachte er uns die gleiche Unfreundlichkeit entgegen wie der vorherige. Er grinste uns mit gelben, zerlöcherten Zähnen an und fing an in einem niederträchtigen Tonfall mit uns zu reden. „Für einen kleinen Aufpreis bekommt ihr noch Schwimmwesten dazu, damit ihr auf See nicht so elendig verreckt wie die anderen Schweine.“. Niemand meldete sich. Niemand hatte genug Geld, das wussten sie. „Mein Sohn und ich wollen welche.“. Der Aufseher schaute uns mit zusammengekniffenen Augen an, „Dann rück mal 9500 Pfund raus.“. Mein Vater verzog keine Miene als er diesem Bastard das Geld überreichte. Er riss ihm das Geld aus der Hand und steckte es, spöttisch lächelnd, in eine kleine Umhängetasche. Dann holte er aus einer schmutzigen Kiste hinter ihm zwei ebenso schmutzige Schwimmwesten hervor und warf sie uns zu. „Danke“, sagte mein Vater und deutete eine Verbeugung an. Er hatte mir schon oft gesagt, dass man hier mit Unterwürfigkeit mehr erreichte als mit Aufmüpfigkeit. Ich biss die Zähne zusammen als ich das kleine Loch in der Schwimmweste sah. Diese Schwimmweste würde uns vor dem Ertrinken ebenso gut bewahren wie ein Stein. Mein Vater schien es auch zu bemerken, jedoch sprach er den Aufseher nicht darauf an. Kurz danach mussten wir alle dem Aufseher 76.500 ägyptische Pfund geben, wurden in ein Schlauchboot gesetzt und ein Unbekannter startete den Motor. „Ihr habt Glück, für die nächsten beiden Tage sind keine Sturmwarnungen ausgerufen!“, rief uns der Aufseher noch hinterher bevor wir aus dem Hafen fuhren. Es war ein recht kleines Schlauchboot, gerade einmal genug Platz für 20 Personen. Wir waren 36. Der Aufseher teilte uns schon vor zwei Tagen mit, dass wir unglaubliches Glück hätten, da irgendetwas die Küstenwache lahmgelegt hätte. Daher mussten wir nicht zum Strand gehetzt werden oder uns mit erniedrigenden Kommentaren abgeben. Die Überfahrt dauerte viel zu lange, obwohl die See ruhig war. In der zweiten Nacht fand ich endlich ein wenig Schlaf. Es dauerte lange bis ich einschlief, doch es genügte mir. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Verschlafen richtete ich mich auf und ein Schock durchfuhr mich. Nun war ich hellwach. Niemand, absolut niemand war noch an Bord des Schlauchbootes. Ich blickte mich panisch um. Der wolkenlose Sternenhimmel spiegelte sich in jeder einzelnen Welle wieder, die gegen das Schlauboot schwappte. Leise plätschern und knarzend bewegte es sich durch das Wasser. Der Motor war ausgeschaltet und bis auf Geräusche des Meeres herrschte Stille. Totenstille. Mein Herz beruhigte sich wieder und ich schaute mich ein wenig genauer um. Als ich zum Nachthimmel hinaufschaute bemerkte ich, dass kein Mond auf mich hinunterblickte. Nur die Sterne blitzten verführerisch das Meer an. Wo sind alle hin verschwunden? Ich hätte es doch mitkriegen müssen, wenn sie von Bord gegangen wären. Verängstigt und verwirrt legte ich mich wieder auf den Boden und starrte die Sterne an. Dann meinte ich ein Seufzen hören zu können. Ich hob den Kopf um besser hören zu können, doch nichts drang in meine Ohren ein. Ich tat es als Einbildung ab und legte mich wieder hin. Ich musste jetzt erst einmal schlafen und den Kopf frei kriegen. Morgen würde ich dann um Hilfe schreien bis mich irgendjemand erhört. Dann kam wieder ein seufzen. Ungläubig blinzelte ich. Ein weiterer, traurig klingender Seufzer. Ich richtete mich auf um die Quelle der Laute ausfindig zu machen. Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich den Horizont nach einem Schiff oder etwa ähnlichem ab. Nichts. Nur der Sternenhimmel der sich irgendwann mit seinem gespiegelten Selbst im Meer verband. Ich wollte mich gerade wieder hinlegen als ich etwas im Wasser bemerkte. Kurz stockte ich. Dort war nichts im Wasser. Ich legte mich wieder hin und tat alles als Einbildung meiner Einsamkeit auf See ab. Wieder ein Seufzer und dieses Mal wesentlich lauter als der Erste. Leise grummelnd erhob ich mich wieder und… bekam den Schock meines Lebens. Im Wasser… Ich fiel auf den Boden des Bootes. Waren das eben tatsächlich Gesichter im Wasser gewesen. Ich holte tief Luft und spähte über den Bootsrand. Ich widerstand dem Drang mich leise wimmernd auf dem Boden zusammenzurollen. Hunderte blau-weiß schimmernde Gesichter sahen aus dem Meer zu mir heraus. Manche der Gesichter machten stumm den Mund auf und zu als wollten sie etwas sagen. Tränen liefen ihre Gesichter entlang. Dann erfüllten Seufzer die Luft. Eine durchdringende Aneinanderreihung von Klagelauten erschütterte mich bis tief in meinem inneren. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf, doch ich schaffte es nicht ihn einzufangen. Die Augen der Gesichter starrten mich schmerzerfüllt an. Tiefe Trauer erfasste mich und ich fing an leise zu weinen. Ich weiß nicht wie lange ich dort saß und weinte, während mich die traurigen Augen von Verschollenen anstarrten. Irgendwann schlief ich in dem Chor von Seufzern ein. „Aufstehen Khanuchali.“, sagte mein Vater in einem sanften Tonfall zu mir. Grummelnd drehte ich mich zur Seite. „Aufstehen, du hast zwölf Stunden geschlafen, wir sind gleich da.“, die Freude in seinen Worten war unüberhörbar. Verschlafen richtete ich mich auf. Ein Großteil der Passagiere schien schon eine Weile lang wach zu sein. „Ich hab h…“, mitten im Satz brach ich ab. Der Traum fiel mir wieder ein. Ich konnte mich an jedes kleine Detail erinnern. Ich konnte mich an die trauernden und weinenden Gesichter erinnern. Ich konnte ihre traurigkeitserfüllten Seufzer in meinen Ohren hören. Ich setzte mich wieder hin. Einen kurzen Augenblick lang zog mein Vater seine Augenbrauen hoch „Ich weiß, dass du Hunger hast, aber du musst noch durchhalten bis wir in Italien angelangt sind.“, sagte er milde lächelnd. Kurze Zeit später landeten wir am Strand irgendwo in Italien. Wir wurden einfach weggeschickt und mussten nun auf uns allein gestellt weiter kommen. Mein Traum ging mir auf dem Weg durch Italien nicht aus dem Kopf. Acht Monate später und nach vielen abgelehnten Asylanträgen kamen wir schließlich in Kassel zu einem Wohnsitz. Mein Vater hatte einen Job als Dolmetscher bekommen und ich konnte endlich eine richtige Schule besuchen. Faisal ließen wir unerwähnt, auch er war jetzt warscheinlich zu einem vergessenen Gesicht geworden. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Es war der Traum gewesen, der mich damals bei der Überfahrt nach Italien so erschüttert hat. Irgendwie ist mir der verloren geglaubte Gedanke dann doch wieder ins Netz gegangen. Es waren die Gesichter der Vergessenen. Die Gesichter von denjenigen die das Pech hatten bei der Überfahrt nach Italien zu sterben. Es waren die Gesichter von Kindern, die völlig verängstigt ertrunken waren. Es waren die Gesichter von niedergeschlagenen Eltern die in ihrem Leben immer nur vor Gefahren davongelaufen sind. Es waren die Gesichter von Alten, die auf der Suche nach einer letzten Wohnstelle hoffnungslos dem Meer ausgeliefert wurden. Es waren die Gesichter der Vergessenen, die noch einmal darauf aufmerksam machen wollten, wie schlimm sie im Meer ertrunken sind, wie schlecht man sie an Land behandelt hatte und wie enttäuscht sie ihrem Ende entgegen blicken mussten. Seitdem widme ich mich nur der Aufklärung von Todesfällen, um den Gesichtern der Vergessenen noch einmal ihren letzten Wunsch zu erfüllen: Eine Erinnerung zu sein. Kategorie:Mittellang Kategorie:Geister Kategorie:Artikel ohne Bilder