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  • Von Wölfen und Hirtenkindern
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  • Michelle wusste, dass sie für ihr Alter ungewöhnlich schlau war. Sie war ein cleveres Kind; die Sorte von Mädchen, die ziemlich früh herausfindet, dass Eltern weder allmächtig, allwissend, noch unfehlbar sind. „Mami, Papi!“ „Was ist los, mein Engel?“ „Ich, ich ha-hab ein Monster gehört.“ Denn Michelle verstand nun auch, dass sie Macht hatte. Bald konnte das Mädchen ihre verschreckte Maske nicht mehr tragen, und brach in lautes Gelächter aus, als Papi umfiel, nachdem er im Rekordtempo ihre Zimmerlampe untersucht hatte. Dort oben würde doch gar kein Monster reinpassen.
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  • Michelle wusste, dass sie für ihr Alter ungewöhnlich schlau war. Sie war ein cleveres Kind; die Sorte von Mädchen, die ziemlich früh herausfindet, dass Eltern weder allmächtig, allwissend, noch unfehlbar sind. Das hatte sie nämlich herausgefunden, als sie eines Nachts nicht schlafen konnte, und in ihrer kindlichen Angst jedem noch so leisem Geräusch eine passende Monsterfratze zuordnete, welche sie verschlingen würde, wenn sie nicht sofort Schutz suchte. Ein unidentifizierbares Geräusch war in ihrem Zimmer erklungen, aus dem Bereich unter ihrem Bett, oder aus dem Schrank, jedenfalls war sie daraufhin zu ihren Eltern gerannt, und hatte die beiden Konturen im Bett panisch geweckt. „Mami, Papi!“ „Was ist los, mein Engel?“ „Ich, ich ha-hab ein Monster gehört.“ Obwohl ihr Schreck sich mittlerweile gänzlich aufgelöst hatte, schniefte Michelle bei Gebrauch ihrer ausgefeilten Schauspielkünste noch einmal, und wischte sich versiegende Tränen mit dem Ärmel ihres Schlafanzuges aus dem Gesicht. Sie wollte in den Arm genommen werden, und um zu verhindern, dass ihre Eltern die Scharade durchschauten - vielleicht sogar wütend werden würden, so spät geweckt zu werden – musste sie eben ein bisschen dicker auftragen. Das Mädchen hatte erwartet, bei den beiden schlafen zu dürfen. Stattdessen sprangen ihre Eltern sofort auf und rannten in ihr Kinderzimmer, wo sie unter dem Bett nachsahen, den Schrank inspizierten, die Verriegelung des Fensters überprüften. Sie suchten, stupsten, betrachteten, stöberten, klopften ab, kramten, durchsahen, stocherten herum, wühlten – nach wenigen Minuten war kein Zentimeter vor den wachsamen Augen unentdeckt geblieben. Michelle verstand schnell. Sie wusste, was die Erwachsenen da taten. Indem sie ihre Angst ernst nahmen, zeigten sie ihrem kleinen Schatz, dass sie sicher und geliebt war. Wahrscheinlich hatten die Beiden das aus irgendeinem Buch, von irgendeinem Erziehungsberater. Aber im Moment war diese Tatsache gänzlich unwichtig. Denn Michelle verstand nun auch, dass sie Macht hatte. Aus diesem Grund wiederholte sich solch nettes Spiel in vielfacher Ausführung nächtlich. Michelle weinte, ihre Eltern rannten, Michelle setzte einen Hundeblick auf, ihre Eltern ließen sie in ihrer sicheren Mitte schlafen - das alles, während Michelle ihr immer breiter werdendes Grinsen hinter ängstlichen Tränen versteckte. Doch ihre Eltern beschwerten sich nicht ein einziges Mal. Niemals. Bald konnte das Mädchen ihre verschreckte Maske nicht mehr tragen, und brach in lautes Gelächter aus, als Papi umfiel, nachdem er im Rekordtempo ihre Zimmerlampe untersucht hatte. Dort oben würde doch gar kein Monster reinpassen. „Was ist so witzig?“, wollte er wissen, während er seinen Rücken rieb. „Ihr beiden.“, grinste Michelle schelmisch, „Ihr glaubt mir immer, egal was ich sage.“ Michelle hätte jetzt eigentlich erwartet, sich eine Standpauke anhören zu müssen, – das auch zurecht – doch Papi wurde nicht wütend. Er warf Mami nur einen vielsagenden Blick zu, den Michelle trotz ihrer Intelligenz nicht wirklich deuten konnte, und erhob sich auf zittrige Beine. Dem kleinen, cleveren Mädchen wurde unwohl. Ihre Mundwinkel wanden sich ein wenig nach unten, und eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. Schließlich erlischt der Spaß ganz aus ihren Gesichtszügen, und sie wartete nur noch auf die Worte, die so einen Wandel in ihrer Gefühlswelt verursachen konnte. „Einmal.“, flüsterte er, darauf bedacht dem forschenden Blick seiner Tochter auszuweichen, „Nur einmal haben wir deinem Bruder nicht geglaubt.“ Und Michelle, ein Einzelkind, konnte in dieser Nacht wirklich nicht gut schlafen.