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  • Die Anti-Tachyonen-Theorie
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  • Als alter Mann von nunmehr einhundertunddrei Jahren und zehn Monaten lege ich den Zettel, der sich in meiner Hand befindet, zur Seite und versuche mich in meinem Bett ein wenig aufzurichten. Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich so alt geworden bin. Geraucht habe ich nie, aber gefressen wie ein Loch. An meinen schlimmsten Tagen wog ich sicher so um die 170 Kilo. Das zeichnet sich nun alles in meiner Bewegungsfreiheit ab. Der Rücken im Arsch, die Beine im Arsch und meine Leber würde sich wünschen, dass sie im Arsch wäre. Immerhin hat mein Gedächtnis mich nicht verlassen, und da ich nichts anderes machen kann, erinnere ich mich an den Mann, der diesen Brief geschrieben hat. Dazu muss ich etwa siebzig Jahre in die Vergangenheit. Oh, diese ironische Wortwahl...
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  • Als alter Mann von nunmehr einhundertunddrei Jahren und zehn Monaten lege ich den Zettel, der sich in meiner Hand befindet, zur Seite und versuche mich in meinem Bett ein wenig aufzurichten. Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich so alt geworden bin. Geraucht habe ich nie, aber gefressen wie ein Loch. An meinen schlimmsten Tagen wog ich sicher so um die 170 Kilo. Das zeichnet sich nun alles in meiner Bewegungsfreiheit ab. Der Rücken im Arsch, die Beine im Arsch und meine Leber würde sich wünschen, dass sie im Arsch wäre. Immerhin hat mein Gedächtnis mich nicht verlassen, und da ich nichts anderes machen kann, erinnere ich mich an den Mann, der diesen Brief geschrieben hat. Dazu muss ich etwa siebzig Jahre in die Vergangenheit. Oh, diese ironische Wortwahl... „Entschuldige bitte, wenn diese Frage ein wenig blöd erscheinen mag von einem Doktor der Physik, aber... wie kommst du auf diese Idee?“ Mein damals bester Freund sah mich mit einem Gesicht an, das er immer dann aufsetzte wenn er versuchte, in meinen oft hirnrissigen Theorien Fehler zu finden. Schon damals hatte ich beinahe gehofft, dass es einen geben würde. „Gut, ich erkläre es dir am besten noch einmal.“, antwortete ich: „Irgendwann in den Sechzigern oder den Siebzigern gab es noch die Theorie, dass das Universum am Ende der Zeit entstanden ist und sich innerhalb der Zeit rückwärts bewegt. Beziehungsweise dass das Ende der Zeit bereits war, so wie das Universum da schon war und dass sich nun alles in der Zeit nach hinten bewegt, quasi zurückbildet und dass Ende allen Seins am temporalen Anfang der Zeit und des Universums steht. Soweit klar, Mister 'Ich hab einen Doktor in Physik'?“ „Wenn du dazu dumme Sprüche reißen willst, kannst du dich gleich wieder aus meinem Labor entfernen.“, sagte er grinsend: „Ich habs kapiert, rede weiter.“ „Gut, in diesem Zusammenhang wurden schnell theoretische Teilchen in den Raum geworfen, die sogenannten Tachyonen. Teilchen, die sich in der Zeit rückwärts bewegen und diese Rückbildung zum Anfang der Zeit bewirken. Jetzt hat aber Stephen Hawking auf Basis der Forschungen von Albert Einstein herausgefunden, ebenfalls in den Siebzigern oder so, wenn ich mich nicht irre, dass diese Theorie falsch ist und das Universum sich nicht in der Zeit rückwärts bewegt und zurückbildet, sondern dass es so läuft wie es eigentlich auch sein sollte: Das Universum hat sich vom Anfang der Zeit an ausgedehnt und tut es noch, also läuft das Universum sozusagen vorwärts. Wie gesagt, so wie es auch sein sollte. Und jetzt zu dem Teil, wegen dem ich dich sprechen wollte. Tachyonen sind ja nach wie vor theoretische Teilchen und deren Entdeckung wäre nicht nur von fundamentalem Erkenntniswert für die Wissenschaft, sie könnte sogar Zeitreisen ermöglichen. Und nun habe ich die Theorie aufgestellt, mehr in meiner Freizeit als rein wissenschaftlich, dass die Tachyonen ja ursprünglich die Idee dafür waren, dass das Universum sich rückwärts in der Zeit bewegt. Was in der Forschung der letzten Jahrzehnte aber scheinbar niemand bedachte ist, dass sich das Universum ja nicht rückwärts, sondern vorwärts in der Zeit bewegt, meiner Ansicht nach nebenbei bemerkt auch der Grund aus dem wir so altern wie wir es nun mal tun und nicht wie Brad Pitt in dem 'Seltsamen Fall des Benjamin Button', klar? Also warum sollten Tachyonen sich dann nicht, anstatt in der Zeit rückwärts zu reisen, doch vorwärts reisen? Nach dieser Ansicht wäre es so, als hätten bisherige Wissenschaftler den Nordstern im Süden gesucht. Und da nun mal du der Physiker von uns bist, dachte ich, könntest du diese Theorie doch mal überprüfen, nicht wahr?“ Er tat es. Bei Gott, er tat es, und es tut mir so leid für ihn. Es hatte geklappt. Drei weitere Jahre der Forschung waren nötig, um die von mir aufgestellte Theorie wissenschaftlich zu beweisen. Irgendwie amüsant, wenn ich so zurückdenke, dass ein einfacher Grundschullehrer wie ich eine der größten Wissenschaftlichen Entdeckungen seit dem Feuer vorangetrieben hatte. Natürlich wird der Nobelpreis für Entdeckungen verliehen und nicht für die Theorie, die dazu führte, so wurde ich nicht selbst ausgezeichnet, aber immerhin bekam ich drei ganze Absätze in der Dankesrede meines Freundes. Einhundertfünfzehn Wörter. Schon lustig wenn ich so daran denke, dass ich dieses Alter vielleicht noch erreichen könnte. Jedenfalls mit einer strengen Diät und dem Fortschritt der Medizin. Insgesamt acht Jahre nach dem Tag, an dem ich meinem Freund von den in der Folge „Anti-Tachyonen“ genannten Teilchen erzählte, wagte er einen Zeitreisen-Selbstversuch. Es war in der Zwischenzeit gelungen, Anti-Tachyonen zu bündeln und auf leblose Objekte zu schießen, die daraufhin verschwanden. Spurlos, möchte ich betonen. Erst viel zu spät wurde klar, warum. Damals dachte mein Freund jedoch, dass es an der Leblosigkeit läge. Etwas totes könne nicht aus dem Prozess aussteigen, wenn es mal soweit käme. Ein Mensch könnte sich demnach mit den Anti-Tachyonen beballern lassen und nach einer gewissen Zeit, sagen wir fünf Minuten für ihn, aussteigen und sich eine Woche in der Zukunft befinden. Natürlich eine Einwegreise. Jedenfalls war es der achte Juli des Jahres 2039 der Tag, an dem mein Freund sich in den Tunnel (wie er den runden Raum, in dem man mit Tachyonen experimentierte, nannte) begab und sich selbst damit bestrahlte. Ich war an diesem Tag nicht dabei. Wäre ich es gewesen wären meine Schuldgefühle nun vielleicht noch größer, weil ich ihn hätte aufhalten können... es jedoch nicht getan hätte. Von meinem Freund habe ich seitdem nichts mehr gehört, dutzende von Jahren lang. Bis heute, als ein Mitarbeiter des Instituts, in dem er damals gearbeitet hatte, mich besucht hatte. Er überbrachte mir einen Brief, nur ein Zettel alten Papiers, aber kunstvoll zusammengefaltet und mit meinem Namen und meiner Adresse darauf. Als der Bote verschwunden und ich allein war, faltete ich ihn mit zitternden Händen auseinander. Darauf geschrieben, mit einem alten, trockenen Kugelschreiber, standen vier Worte. Vier Worte in einer Handschrift, die mir nur allzu bekannt war, habe ich von dieser Handschrift doch früher immer in den Klausuren in der Schule abgeschrieben. Und vier Worte, die mir einen eiskalten Schauer über den rücken jagten. Und es jetzt noch tun, je mehr ich über ihre Bedeutung nachsinne. Vier kleine Worte, die mir den Wunsch ins Gehirn pflanzen, ich hätte meinen Freund nie auf die Idee mit den Anti-Tachyonen gebracht. Ich leide immer noch. Kategorie:Kurz Kategorie:Theorie Kategorie:Artikel ohne Bilder